Zufallsexperimente und Wahrscheinlichkeiten

Einführung

In der Stochastik befassen wir uns mit der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Um diese präzise und eindeutig zu beschreiben, bedienen wir uns der Sprache der Mengenlehre. Eine Menge ist eine Zusammenfassung einzelner Elemente.

Beispiele: Einfache Mengen

Grundbegriffe

Exkurs: Das Russellsche Paradoxon

Der Mengenbegriff erscheint zunächst klar und einfach: Eine Menge ist eine Zusammenfassung von verschiedenen Objekten. Doch wenn wir genauer hinschauen, können Widersprüche auftreten. Ein bekanntes Beispiel ist das Russellsche Paradoxon:

Wir betrachten die Menge $M$, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst enthalten. Nun stellen wir die Frage: Enthält $M$ sich selbst?

Beides führt zu einem Widerspruch. Dieses Paradoxon zeigt, dass der naive Mengenbegriff überarbeitet werden muss. Deshalb arbeiten Mathematiker heute mit exakteren, axiomatischen Grundlagen der Mengenlehre.

Mengenoperationen

Sind $A$ und $B$ Teilmengen einer Menge $X$, so entstehen durch Vereinigungen, Durchschnitte und Komplemente neue Teilmengen.

Beispiel: Ausgänge eines Würfelwurfs

Es sei $ X=\{1, 2, 3, 4, 5, 6\} $.

Textuelle Beschreibung Symbol Operation Mengenschreibweise
Eine Zahl ist durch 2 teilbar. $A$   $\{2, 4, 6\}$
Eine Zahl ist durch 3 teilbar. $B$   $\{3, 6\}$
Eine Zahl ist durch 2 oder 3 teilbar. $A \cup B$ Vereinigung von $A$ und $B$ $\{2, 3, 4, 6\}$
Eine Zahl ist durch 2 und 3 teilbar. $A \cap B$ Durchschnitt von $A$ und $B$ $\{6\}$
Eine Zahl ist nicht durch 2 teilbar. $\overline{A}$ Komplement von $A$ $\{1, 3, 5\}$
Eine Zahl ist nicht durch 3 teilbar. $\overline{B}$ Komplement von $B$ $\{1, 2, 4, 5\}$

Elemente werden nicht doppelt aufgeführt. Für die Vereinigung von $A=\{2, 4, 6\}$ und $B=\{3, 6\}$ schreiben wir $\{2, 3, 4, 6\}$ und nicht $\{2, 3, 4, 6, 6\}$ (obwohl es formal nicht verkehrt wäre).

Mit Hilfe dieser Operationen, lassen sich weitere Mengen beschreiben, z.B.:

Rechenregeln

Es seien $A$ und $B$ Teilmengen einer Menge $X$.

Aussage Bedeutung
$A \cap \overline{A} = \emptyset$ Es gibt kein Element, das in $A$ liegt und in $\overline{A}$.
$A \cup \overline{A} = X$ Jedes Element liegt in $A$ oder in $\overline{A}$.
$\overline{\overline{A}} = A$ Doppelte Verneinung.
$A = (A \cap B) \cup (A \cap \overline{B})$ $A$ wird zerlegt in einen Teil, der in $B$ liegt, und einen Teil, der in $\overline{B}$ liegt.
$\overline{A} \cup \overline{B} = \overline{A \cap B}$ Gesetz von de Morgan
$\overline{A} \cap \overline{B} = \overline{A \cup B}$ Gesetz von de Morgan
1. Info
Übersicht Mengenoperationen:
  • $\overline{A}$: Komplement von $A$
  • $A\cup B$: $A$ oder $B$
  • $A\cap B$: $A$ und $B$

Zufallsexperimente

In der Stochastik treffen wir Aussagen über (vermeintlich) zufällige Ausgänge von Vorgängen aus der alltäglichen Welt. Wir präzisieren:

2. Info
Grundbegriffe:
  • Ergebnismenge: alle Ausgänge
  • Ergebnis: ein Ausgang
  • Ereignis: Zusammenfassung von Ergebnissen
  • Gegenereignis von $A$: alle Ergebnisse, die nicht in $A$ liegen

Wahrscheinlichkeiten - Einführung

Eine Wahrscheinlichkeitsverteilung $P$ eines Zufallsexperiments, ordnet dann jedem Ereignis des Zufallsexperiments eine Zahl zwischen 0 und 1 zu.

Beispiel: Einmaliger Münzwurf

Beispiel: Zweimaliger Münzwurf

Beispiel: Häufigkeit von Buchstaben

Die 30 Buchstaben des Alphabets (a-z, ä, ö, ü, ß) treten in Texten mit unterschiedlichen Häufigkeiten auf (untersucht wurde 99.586 Buchstaben):

de.wikipedia.org/wiki/Buchstabenhäufigkeit

Wir betrachten das Zufallsexperiment, bei dem ein Buchstabe zufällig ausgewählt wird.

3. Info
Mengenoperationen und Wahrscheinlichkeiten:
  • $P(\overline{A})$: Wahrscheinlichkeit, dass $A$ nicht eintritt
  • $P(A\cup B)$: Wahrscheinlichkeit, dass $A$ oder $B$ eintritt
  • $P(A\cap B)$: Wahrscheinlichkeit, dass $A$ und $B$ eintritt
  • $P(A\cup B)- P(A\cap B)=P(A\cap\overline{B})+P(\overline{A}\cap B)$ ist die Wahrscheinlichkeit, dass entweder $A$ oder $B$ eintritt (ausschließendes Oder)

Laplace-Experiment

In einfachen Alltagssituationen funktioniert unser intuitiver Umgang mit Wahrscheinlichkeiten oft gut (wie in den obigen Beispielen), und wir können mit einfachen Methoden die Wahrscheinlichkeiten berechnen.

Ein Laplace-Experiment ist ein Zufallsexperiment, bei dem alle Ergebnisse die gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen. Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses $A$ ist damit:

\[P(A) = \frac{\text{Anzahl Ergebnisse in } A}{\text{Gesamtanzahl der Ergebnisse}}\]

Beispiel: Würfelwurf

Würfelwurf: Es sei $A$ das Ereignis „Es wird eine Primzahl geworfen.“ $\Rightarrow A = \{2, 3, 5\} $ Dann gilt:

\[P(A) = \frac{3}{6} = \frac{1}{2}\]

Beispiel: Roulette

Es sei $A$ das Ereignis „Die Kugel landet auf einem roten Feld.“ Dann gilt:

\[P(A) = \frac{18}{37}\]
KI-generiert mit ChatGPT
4. Info
Ein Zufallsexperiment ist ein Laplace-Experiment, falls…

… jedes Ergebnis mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eintritt.

Relative Häufigkeiten

Relative Häufigkeiten (Aussagen über die Vergangenheit) können als Wahrscheinlichkeiten (Aussagen über die Zukunft) interpretiert werden.

Beispiel: Lieblingsgerichte

Aus persönlichen Beobachtungen sei bekannt, dass 50 % aller Kinder am liebsten Pizza essen, 30 % Pommes und 20 % Nudeln mit Ketchup. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig ausgewähltes Kind am liebsten Pommes isst, 30 %.

Beispiel: Spicken

In einer Klausur spicken 2 von 20 Schülern. Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein zufällig ausgewählter Schüler spickt, $\frac{2}{20}$ oder 10 %.

5. Info
Relative Häufigkeiten = Anzahl / Grundgesamtheit

In einer Urne befinden 1 rote, 2 blaue, 3 gelbe und 4 grüne Kugeln. Für die Grundgesamtheit gilt $1+2+3+4+=10$. Dann ist die relative Häufigkeit für

  • rot: $\frac{1}{10}=0{,}1$
  • blau oder gelb: $\frac{2+3}{10}=0{,}5$
  • nicht grün: $\frac{1+2+3}{10}=0{,}6$
  • weder rot noch blau: $\frac{3+4}{10}=0{,}7$

Das Gesetz der großen Zahlen beschreibt den Zusammnehang zwischen Laplace-Wahrscheinlochkeiten und relativen Häufigkeiten genauer.

Axiome von Kolmogorov

Eine solide mathematische Fundierung der Stochastik wurde erst in den 1930er Jahren von Andrej Nikolajewitsch Kolmogorov (1903-1987) entwickelt. Kolmogorov formulierte die folgenden Grundsätze (Axiome), aus denen sich dann weitere Rechenregeln folgern lassen. Betrachtet wird ein Zufallsexperiment mit Ergebnismenge $S$ und Ereignissen $A$ und $B$. Eine Wahrscheinlichkeitsverteilung $P$ ordnet jeder Teilmenge von $S$, also jedem Ereignis, eine reelle Zahl zu, so dass gilt:

für alle Teilmenge $A$ und $B$ von $S$.

Folgerungen

  1. $P(\emptyset)=0$
  2. Alle Wahrscheinlichkeiten liegen immer zwischen einschließlich 0 und einschließlich 1.
  3. Satz von der Gegenwahrscheinlichkeit: $P(\overline{A})=1-P(A)$.
  4. Zerlegung von Ereignissen: $P(B)=P(A\cap B)+P(\overline{A}\cap B)$
  5. Satz von Sylvester: $P(A\cup B)=P(A)+P(B)-P(A\cap B)$

Exkurs: Beweise

  1. $P(\emptyset)=P(\emptyset\cup\emptyset)=P(\emptyset)+P(\emptyset)$. Es folgt $P(\emptyset)=0$.
  2. Aus $X=A\cup\overline{A}$ folgt $P(X)=P(A)+P(\overline{A})$ und so $1=P(A)+P(\overline{A})$. Da $P(\overline{A})\geq 0$ muss $P(A)\leq 1$ gelten.
  3. Aus $1=P(A)+P(\overline{A})$ folgt $P(\overline{A})=1-P(A)$.
  4. Wir zerlegen $B=(A\cap B)\cup (\overline{A}\cap B)$. Da $(A\cap B)\cap(\overline{A}\cap B)=\emptyset$ folgt $P(B)=P(A\cap B)+P(\overline{A}\cap B)$.
  5. Es gilt $A\cup B=(A\cap\overline{B}) \cup (A\cap B) \cup (\overline{A}\cap B)$. Damit folgt
\[\begin{align*} P(A\cup B)&=P(A\cap\overline{B}) + P(A\cap B) + P(\overline{A}\cap B)\\ &=P(A)-P(A\cap B) + P(A\cap B) + P(B)-P(A\cap B)\\ &=P(A)+P(B)-P(A\cap B). \end{align*}\]
6. Info
Satz von Sylvester: Wenn drei der vier Wahrscheinlichkeiten $P(A)$, $P(B)$, $P(A\cap B)$ und $P(A\cup B)$ bekannt sind, können wir die vierte berechnen.

Gegeben seien $P(A)=0{,}3$, $P(A\cap B)=0{,}2$ und $P(A\cup B)=0{,}5$. Gesucht ist $P(B)$. Wir berechnen mit dem Satz von Sylvester

\[\begin{align*} P(A\cup B)&=P(A)+P(B)-P(A\cap B)\\ 0{,}5&=0{,}3+P(B)-0{,}2\\ 0{,}4&=P(B) \end{align*}\]

Venn-Diagramme

Die Mengenoperationen und Axiome von Kolmogorov mit ihren Folgerungen lassen sich anschaulich anhand sogenannter Venn-Diagramme nachvollziehen: Ereignisse können als Teilflächen einer Fläche $X$ interpretiert werden. Die Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse entsprechen dann den Inhalten dieser Teilflächen. Der Inhalt der Fläche $X$ ist nach Definition 1. Wir erhalten z.B.:

$P(B)$ $P(A\cap B)$ $P(\overline{A}\cap B)$ $P(A\cup B)$ $P(A\cup B)-P(A\cap B)$
7. Info
Interpretation Venn-Diagramme

Beschreibe die dunkel blaue Fläche mit Hilfe der Mengenoperationen.

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